Zeitzeugenberichte 21./22. März 1945
aus Verlagsbeilage der Dülmener Zeitung vom 21. März 1995 zum 50. Jahrestag der Zerstörung Dülmens
In bewegenden Worten wird der Untergang „Alt-Dülmens“ im Bombeninferno zweier Frühlingstage im März 1945 geschildert. Alle vier Berichte haben einen Bezug zur Bauerschaft Börnste.
Helga Bernemann aus Hausdülmen schrieb in diesem Zusammenhang:
„Wir, die Zeitzeugen, die das Elend am eigenen Leibe erfahren haben, wieviel menschliches Leid der Krieg über so viele Familien gebracht hat, sind es unseren Kindern und Enkelkindern schuldig, das Vergangene wach zu halten, sie nachdenklich zu machen. Wenn das geschieht, ist schon viel erreicht.“
Elisabeth Timpte: Die Hilfsbereitschaft der Bauern war erstaunlich
Mehrmals Schutz in Einmannlöchern gesucht
Als das große Unglück über unsere Stadt hereinbrach, war ich mit meinen Kindern (3 und 5 Jahre) schon einige Wochen in der Bauerschaft Börnste, wo ich bei einer mir bekannten Familie freundliche Aufnahme gefunden hatte.
Da ich im Geschäft unter anderem Kindernährmittel für Säuglinge und Kleinkinder verkaufte, fuhr ich jeden Morgen mit dem Fahrrad in die Stadt, um den Müttern Gelegenheit zu geben, ihre Bezugsscheine einzutauschen, sofern überhaupt Ware vorhanden war. Das war oft sehr schwierig, denn mit der Anlieferung der Ware klappte es nicht immer wegen der zunehmenden Luftangriffe. Außerdem flogen häufig Tiefflieger über die Stadt, vor denen man wieder Schutz suchen musste.
Am Morgen des 21. März war ich bereits um 8 Uhr in der Stadt. Ich kam nicht mehr dazu, die Ladentür aufzuschließen und rannte gleich in den Luftschutzkeller, weil schon Vollalarm gegeben war. In den letzten Tagen war ich immer in dem großen Luftschutzkeller einer ehemaligen Brauerei am Ostring. Er befand sich in der Nähe am Ostring. Ca. 250 Menschen fanden dort Platz. Dieser Keller hatte bis dahin standgehalten. Um ihn sicherer zu machen, hatte man große Torfballen aus dem Merfelder Torfwerk herangeschafft, die den Aufschlag der Bomben abfedern sollten. Etwa 20 bis 25 Stufen führten in den Keller hinab.
Herr Franz Overbeck (Bierverleger), der zu der Zeit wegen einer Verwundung Heimaturlaub hatte (er trug eine weiße Kopfbinde), stand am Eingang und war den Leuten behilflich. Bis zum Nachmittag hielten wir uns dort auf. Wir hörten das Brummen der Flugzeug-Geschwader und das Heulen der Bomben, die abgeworfen wurden. Und wir hatten das Gefühl, dass sich der Boden unter den heftigen Erschütterungen hob, wenn in unmittelbarer Nähe eine Bombe einschlug. Neben mir saßen damals die Herren Kaplan Kohaus und Dr. König von der Viktorkirche. Sie hatten schon um 5 Uhr morgens in der schon fensterlosen Kirche zelebriert und noch nicht gefrühstückt.
Die Bäuerin gab mir immer sehr leckere Butterbrote mit, und diese habe ich dann mit ihnen geteilt. Es war nicht abzusehen, wann wir diesen Keller verlassen konnten und wir wurden aufgefordert, nicht so viel zu reden, um nicht unnötig Sauerstoff zu verbrauchen. Selbst das laute gemeinsame Beten mussten wir einstellen. Der Schrecken stand uns allen in den Gesichtern. Herr Kaplan Kohaus sprach ein Gebet und erteilte die Generalabsolution. Ab und zu versuchte Kaplan Kohaus herauszugehen, um wie er sagte, eventuell Sterbenden beizustehen. Aber die Gefahr war zu groß. Als dann kurz darauf der Kellereingang verschüttet wurde, war uns klar, dass wir noch lange hier ausharren mussten.
Gegen 3 Uhr nachmittags wurde es draußen ruhiger und einige Männer begannen damit, den Ausgang frei zu machen. Welch ein Anblick bot sich uns! Heraus und weg aus diesem Chaos war der einzige Gedanke. Über Trümmerberge hinweg suchte ich mir einen Weg zu unserem Haus, dass jedoch noch stand, sogar mein Fahrrad fand ich noch vor. Die Fensterscheiben waren zerborsten und die Haustür hatte sich so verschoben, dass ich nicht mehr aufschließen und ins Haus gehen konnte. Am nächsten Tag, dem 22. März, war es dann soweit, dass auch unser Haus den Bomben zum Opfer fiel. Ich fand ein riesiges Bombenloch vor. Man sagte mir später, es müsste eine Luftmine gewesen sein. Rund um den Marktplatz gab es nur noch Trümmerberge, Bombenlöcher und Ruinen. Straßen waren nicht mehr zu erkennen, und so musste ich mit dem Fahrrad über Schutt und Trümmer in Richtung Borkener Straße, um wieder nach Börnste zu kommen. Viele Menschen liefen suchend und kopflos herum. Ratlos, wie sie hier herauskommen sollten.
Einige Tiefflieger waren immer noch über uns, und mehrmals habe ich Schutz gesucht in den sogenannten Einmannlöchern, die hier und da am Straßenrand ausgehoben waren. Diese Löcher waren von Dülmener Frauen, die zum Schanzen verpflichtet wurden, schon lange vor dem Angriff ausgehoben worden. Gegen 6 Uhr kam ich endlich in Börnste an. Mit offenen Armen und Tränen in den Augen fiel man mir um den Hals. Niemand hatte damit gerechnet, dass aus dieser Hölle jemand herauskommen würde. Am Abend wurden dann noch Brandbomben über der Stadt abgeworfen und es war ein riesiges Flammenmeer. Wir standen vor der großen Tennentür und über Schulze Berning´s Busch war der Himmel glutrot. In der Nacht stürzte dann der Turm der Viktorkirche ein. Leute, die sich noch in der Stadt aufhielten erzählten später, dass dieser Anblick sie derart bewegt hätte, dass sie diesen Augenblick niemals vergessen könnten.
Das Wetter war damals frühlingshaft warm, und viele Menschen brachten die Nacht im Wildpark zu, bis sie auf der Suche nach einer Unterkunft irgendwo ein Plätzchen fanden. Die Hilfsbereitschaft der Landbevölkerung war bewundernswert. Viele Bürger aus der Stadt waren in Merfeld untergekommen. Dort traf man sich dann am Sonntagmorgen nach dem Gottesdienst und erfuhr, wie es diesem und jenem ergangen war. Mancher fehlte. Und die Schreckensnachrichten verbreiteten sich schnell. Dülmen existierte nicht mehr. Die Panzer der Siegermächte bahnten sich einen Weg über Trümmer hinweg. Und so wurde die Straße nach Haltern planiert über die Trümmer des herzoglichen Schlosses.
Die Lager der Zwangsarbeiter am Stadtrand waren nun geöffnet, und Überfälle waren an der Tagesordnung. Mancher Bauernhof wurde nachts überfallen. Man kann sich die Angst und Not nicht vorstellen. Als dann einige Wochen später die Kapitulation erfolgte, war ein Aufatmen, denn Sirenengeheul und Bombenangriffe waren endgültig vorbei.
Bald setzte dann der Strom der hungernden Menschen ein. Sie kamen hauptsächlich aus dem Ruhrgebiet. In Scharen zogen sie über Land, und die Hilfsbereitschaft der Bauern war erstaunlich. Ich entsinne mich, dass Fr. B. vor der Hoftür saß: Links ein Korb voll Kartoffeln, rechts ein Korb voll Brotschnitten. Immer wieder mussten die Körbe aufgefüllt werden. Nicht ein einziger verließ den Hof, ohne eine Hand voll Kartoffeln und etwas Brot. Die Hilfe war grenzenlos.
ELISABETH TIMPTE Marktstraße 25
Oskar Fischer: Kochtopf und Zinkeimer aus Trümmerhaufen gerettet
Bevor die Stadt im März 1945 zerstört wurde, haben die Engländer bzw. Amerikaner das Vorhaben wahrscheinlich durch Flugblätter und Rundfunk angekündigt. Es sprach sich schnell herum. Meine Eltern, meine Schwester und ich wohnten am Nordring. Ich war zehn Jahre alt. Wir packten notwendige Sachen zusammen und verließen die Stadt in Richtung Börnste. Dort übernachteten wir mit vielen anderen Geflüchteten in einer Scheune.
Als der Bombenangriff am nächsten Tag begann, befand sich unsere Familie in einem Wald. Ich hatte mich während des Angriffs so neben den Wald gelegt, dass ich die Flugzeuge aus ziemlich sicherer Ferne beobachten konnte. Die Sonne schien prächtig. Ich hörte die Explosionen und sah, wie die Brandbomben in der Luft funkelten. Nach dem Angriff ging mein Vater sofort zum Nordring und stellte fest, dass unsere Wohnung nur noch ein Trümmerhaufen war. Einen Kochtopf und einen zerbeulten Zinkeimer hat er gerettet.
Die Nacht darauf verbrachte ich mit der Familie draußen in einem Wald in Leuste neben der Landstraße, die nach Billerbeck führt, weil in erreichbarer Entfernung keine bessere Aufenthaltsmöglichkeit zu finden war. Dann zogen wir als Evakuierte in den Nachbarort Rorup. Bald nach Kriegsende reiste ich in die Stadt und betrachtete auf einigen Straßen die großen Trümmerberge der zerstörten Häuser. Es ist ein grauenvoller Anblick aufgrund dieses künstlichen Erdbebens gewesen, das ein verhältnismäßig kleinerer Teil der Zerschlagung des Nazi-Reiches war.
OSKAR FISCHER Hochfeldstraße 41
Edmund Fliss: Rauschen der Brandkörper hörte sich grausam an
Dicke Sandsteinmauern retteten unser Leben
Schon Wochen vor der vollständigen Zerstörung der Innenstadt fielen Bomben in einzelnen Straßen. Die ersten Toten gab es in der Heinrichstraße, unter ihnen auch der Brandmeister der Freiwilligen Feuerwehr, Herr Niehues. Weitere Bomben fielen auf der Overbergstraße, Suttrup am Parkeingang, Borkener Straße, Krankenhaus, Bahnhof, Osthof und am Grenzweg, wo ich wohnte.
Eines Morgens hörte ich Flugzeuge (Jabos), lief auf den Hof und sah die Bomben schon auf mich zufliegen. Mich beschlich ein banges Gefühl. Hinwerfen, rufen „Bomben“ war eins und schon knallte es.
Zum Glück schlugen die Bomben 40 Meter von unserem Haus und dem Luftschutzbunker der Nordmannsiedlung ein. Ziel war ein Zug, der mit Panzern beladen am Bahnübergang Ficker-Hanning stand. Am Mittwoch, 21. März, erfolgte der erste größere Bombenangriff auf die Innenstadt. Betroffen waren die Marktstraße, Lüdinghauser Straße. Nach dem Angriff eilte ich in die Stadt, um zu helfen. Bei Langenkämper hörten wir Klopfgeräusche.
Mit bloßen Händen wurde der Schutt beiseite geräumt, bis ein Loch entstand, durch das die Helfer die Verletzten und Toten bergen konnten. Als alle Verschütteten geborgen waren, ging es weiter zur Schückings-Mühle und Brennerei.
Hier wurden nur noch Tote geborgen, die unter einem Kornbunker erstickt waren. Man legte die Körper draußen nebeneinander, wo sie am gleichen Abend verbrannten, als der zweite Angriff mit Brand- und Phosphorbomben die Stadt in ein Flammenmeer verwandelte. Ich sah die Markierungsbomben, (genannt Christbäume) lief zur Viktorkirche und stellte mich ganz eng in die Ecke eines Pfeilers an der Sakristei. Das Rauschen und Zischen der fallenden Brandkörper hörte sich grausam an und ich bekam es mit der Angst zu tun. Überall brannte es und viele Bürger baten um Hilfe.
Bei Jürgensmeier war der nächste Einsatz, um zu retten, was noch zu retten war. Der Turm der Sankt Viktor Kirche stand in hellen Flammen und stürzte ca. um Mitternacht ein. Zwischen den Rettungsaktionen ging es mal schnell zur Druckerei Laumann, Viktorstraße, wo im Keller unter der Leitung von Frau Butzlaff ein Notverpflegungslager eingerichtet war.
Anschließend ging es weiter zu Clemens Wening (heute Parfümerie Pieper), um zu helfen. Das Treppenhaus war schon teilweise ausgebrannt, so dass man nur noch mit Leitern in die oberen Stockwerke gelangen konnte. Das wichtigste noch Vorhandene wurde auf Handwagen (Bollerwagen) verladen, die seine Töchter Elisabeth und Leni zu Bauern in Börnste brachten und auch dort blieben.
Donnerstag, 22. März. Gegen Mittag lautes Motorengeräusch. Die nächste Angriffswelle flog auf unsere Stadt zu. Runter in den Gastraum, zwischen Mauer und Theke geworfen und schon ging es wieder los. Heulen, Krachen, Bersten und alles voll Staub. Mehrere Volltreffer nebenan. Meine letzten Worte waren: „Mama, ich geh kaputt“. Ich war kurz besinnungslos. Nach kurzer Zeit packte mich jemand an den Haaren, gab mir zu trinken und langsam kam ich wieder zu mir.
Als keine Bomben mehr fielen und der Staub sich verzogen hatte, reichten wir uns die Hände, Clemens Wening, Sepp Seewald, ein Holländer, und ich und dann nichts wie raus.
Überall Brände, kein Stein mehr auf dem anderen, Bombentrichter an Trichter. Ich lief bis zur Viktorkirche und fand überall tote Feuerwehrleute und junge Menschen im Alter von 16 bis 17 Jahren, die am Tag zuvor in die Stadt gekommen waren, um zu helfen. Zu meinem Entsetzen auch ein guter Freund von mir, Heine Schulten aus Sythen. Wir hatten am Abend zuvor noch zusammen zwei Zigaretten geraucht.
Ich wollte nur noch nach Hause. Über Schuttberge fand ich den Weg zur Coesfelder Straße/Ecke Lohwall und wusste, dass ich die richte Richtung gefunden hatte. Am Kreuz bat mich ein Meister, Herr Wiese, ihm zu helfen. Der Dachstuhl brannte schon lichterloh, und wir versuchten, rauszuholen, was noch an Möbeln heil geblieben war.
Nach 32 Stunden ununterbrochenem Helfen war ich wieder zu Hause am Grenzweg und meine Mutter und fünf Geschwister waren glücklich, dass ich noch lebte, staubverschmiert und leichtverletzt, wieder bei ihnen war.
Trotz der vielen Volltreffer rund um das Weningsgebäude bin ich noch heute der Meinung, dass die dicken Sandsteinmauern unser Leben gerettet haben.
EDMUND FLISS Pluggendorfer Straße 29
Heinz Josef Hillers: In Nähe des Tiberturms fielen die ersten Bomben
Am Tag der Bombardierung Dülmens war ich mit meiner Mutter und meinen vier Geschwistern im Tiberturm am Südring. Unsere Wohnung war in der Kötteröde.
Mein Großvater blieb während der Luftangriffe immer im Haus. Weil er sehr gehbehindert war, ging er Tage vorher zu seiner ältesten Tochter.
Zur Zeit der Bombardierung war mein Vater nach Münster zur Arbeit gefahren.
So musste meine Mutter mit uns fünf Kindern im Luftschutzraum Schutz suchen. Da ganz in der Nähe des Tiberturms die ersten Bomben fielen, mussten wir aus dem Tiberturm flüchten.
Als wir aus dem Tiberturm kamen, sah ich überall viele Trümmer liegen. Da mein jüngster Bruder noch im Kinderwagen war, zog unsere Mutter mit uns Kindern den Südring Richtung Schloss durch die am Ende der Straße liegende Panzersperre.
Jetzt ging es weiter Richtung Vorpark durch die ausgehobenen Schützengräben. Am Hin-derkingsweg angekommen, sahen wir die Viktorkirche und das Schloss brennen.
Wir erfuhren dann auch noch, dass die letzten, die noch zurückgeblieben sind, nicht mehr durch die am Südring liegende Panzersperre kommen konnten. Der Rückweg war nur noch frei durch die nahe liegende Schloßgärtnerei, um sich im nahen Park in Sicherheit zu bringen.
Aber durch die Luftangriffe sind in der Schloßgärtnerei viele Menschen umgekommen. Eine Nacht blieben wir dann noch bei meinem Onkel am Hinderkingsweg.
Am anderen Morgen versuchte meine Mutter noch, aus unserem Haus in der Kötteröde etwas zu retten. Mit diesen kleinen Habseligkeiten zogen wir dann durch den Wildpark nach Reufer. Dort angekommen, sahen wir, dass wir nicht mehr alleine waren. Später ging es dann mit ein paar Leuten und unserem wenigen Hab und Gut in Richtung Visbeck zu einem Bauern.
Erst Tage später fand mein Vater seine Familie wieder. So blieben wir ungefähr vier Wochen gut untergebracht in Visbeck.
HEINZ JOSEF HILLERS Am Bache 9
